Design: Formen für heute

2022-10-09 01:12:35 By : Ms. Hanny Li

Warum sehe ich FAZ.NET nicht?

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Wenn im Design selbst die Zukunft eine abgeschlossene Epoche ist, muss völlig neu gedacht, geformt und gestaltet werden: Mit Materialien, die gerade erst erfunden wurden, mit Funktionen, von denen wir nichts ahnten. Und mit dem Mut, vieles einfach abzuschaffen.

Sind sieben mexikanische Männer mit Schnurrbärten die Zukunft des deutschen Designs? Hanne Willmann sitzt in ihrem kleinen Studio in der Berliner Pappelallee und zeigt ein Foto von acht Herren. Das Foto wurde vor drei Jahren aufgenommen. Sieben sehen sich verblüffend ähnlich, sie haben alle einen Schnurrbart. Der älteste der Herren auf dem Foto, José Bernabé, hat keinen. Vor kurzem ist er gestorben. Die Arbeit, die er mit Hanne Willmann begonnen hat, war eine seiner letzten. Jetzt führen seine sieben Söhne das Geschäft weiter, alle tragen Schnurrbart, alle sind berühmt in Mexiko für die Terrakotta-Produkte, die sie in Handarbeit herstellen. Vor drei Jahren hatte Hanne Willmann auf Einladung der Deutschen Botschaft und der Design Week Mexico angefangen, mit ihnen zu arbeiten. Das Ergebnis, das international gefeierte Terrakotta-Set „La Familia“, benannt nach der mexikanischen Töpferfamilie, in der jeder der Söhne für ein Objekt zuständig war, steht neben ihr auf einem Regal. „,La Familia‘ ist anders als alles, was ich bisher gemacht habe“, sagt Willmann. 

Bekannt geworden ist die 32-jährige Designerin, die von diversen Magazinen als „Designerin der Stunde“ („Architectural Digest“) gefeiert wird, tatsächlich mit ganz anderen Dingen – einer verblüffenden Vase zum Beispiel, die sie noch während des Studiums für den dänischen Möbelhersteller Menu entwarf. Auf ein filigranes Glasunterteil hatte sie damals ein recht massives Betonoberteil gestülpt. Das war auch eine Hommage an die Schwebeobsessionen der klassischen Moderne, die ihre revolutionäre Technik gern mit Dingen in Szene setzte, die bisher Unmögliches vollbrachten – von Häusern wie der scheinbar auf dünnen Betonbeinchen über dem Gras balancierenden Villa Savoje von Le Corbusier über Autos wie dem Citroën DS, der sich wie von Geisterhand gesteuert dank einer hydropneumatischen Federung erheben und souverän über alle Unebenheiten der Welt schweben konnte, bis hin zu Möbeln wie dem Freischwinger und all seinen Nachfolgern, die den Hintern der Sitzenden ohne jede Hinterbeine einen guten halben Meter über dem Boden schweben und wippen ließen und ihren Besitzern ein erstaunliches Gefühl der Leichtigkeit und Aufhebung aller Erdenschwere gaben.

Bei Willmanns jüngeren Produkten, etwa dem Beistelltisch „Gravity“, den sie für das junge Label Favius entwarf, dreht sie dieses filigrane Balancierwerk aber auch gern einmal um: Der Tisch hat einen massiven Marmorfuß, auf den vier dünne Metallbeine aufgesteckt sind, die die hölzerne Tischplatte tragen; das Ganze hat etwas gleichzeitig Feines und herzhaft Improvisiertes (als hätte jemand einen schönen, aber zu schwachen Tisch mit zwei dicken Steinblöcken sturmfest gemacht). „Gravity“ steht wie eine dünn-elegante Person mit robusten Marmorgummistiefeln im Raum. Fast all ihre Objekte haben etwas sehr Körperliches, Elemente wurden gesteckt, zusammengeschoben, aufgepropft, angeflanscht, zusammengepresst. Und dann: Ein einfaches Set, Platte, Schüssel, Teller, Espressotasse, Wasserkaraffe. Aus Terrakotta. Echt jetzt? Terrakotta klingt erst mal eher nicht so nach Zukunft.

Wobei „Zukunft“ im Design ja selbst schon zu einer Art Stilbegriff geworden ist, mit dem Produkte im Stil der späten sechziger Jahre gemeint sind, jene warm leuchtenden, mondsandweichen, orange-dunkelbraunen Plastik-Cordsamt-Plexiglas-Formen, mit denen das Design des Moon-Age die grünglasige Stahlrohrkälte der klassischen Moderne ablöste und sich gleichzeitig die spekulative Ästhetik von Mondraketen und möglichen Weltraumhabitaten einverleibte

Seit zwei Jahrzehnten bedient sich das Design durchgehend bei den Formen dieser Paulin-Panton-Welt und verfängt sich in immer blasseren Retroschleifen – und hat doch immer größere Probleme, die Schönheit der damals ohne größere Rücksicht auf Umweltschäden produzierten Plastikobjekte mit ökologisch vertretbaren Materialien zu imitieren.

„Was mich so fasziniert hat“, sagt Willmann über ihre Mitarbeiter, „ist, wie sie arbeiten. Sie sitzen zusammen im Kreis, und jeder hat seinen Aufgabenbereich und seine eigene Technik: Daniel malt immer die Schraffur. Ismael malt immer die Rechtschrägstriche, der eine Bruder die Outlines, der andere die Füllungen …“

Für ihre Kooperation wünschten sich die acht Mexikaner etwas, „was ihr Mexikanisch-Sein und mein Deutsch-Sein zusammenbringt“, sagt Willmann. „Und da habe ich gesagt, wenn es ‚deutsch‘ sein soll, dann muss es ein Set sein, ein System, es muss eher reduziert und vor allem stapelbar sein. Vor allem stapelbar. Sonst ist es nicht deutsch. Das kommt von mir. Die Bemalung kommt von euch.“

Was so viel hieß wie: Wir erhitzen das Bauhaus, bis es eine mexikanisch-karibische Temperatur annimmt. Nicht der schlechteste Plan für die öden, kalten Bauhausfeierlichkeiten, zu denen „La Familia“ im Handel sein sollte. Es hat sich aber noch kein Hersteller gefunden, und die sieben können Hunderte von Aufträgen nicht im Alleingang erledigen. Manchmal ist Erfolg auch ein Problem. In der Fachwelt ist „La Familia“ jedenfalls mit großem Applaus aufgenommen worden, und das zu Recht: Die Bemalungen legen sich wie ein weißes Netz, wie seltsame Funksignale oder Dynamogramme aus dem All über die braune Terrakottafarbe und bringen das Kunststück fertig, dass das Ergebnis nicht deprimierend selbstgetöpfert aussieht, sondern wie etwas zwischen Archäologie und Futur, von dem man nicht weiß, ob es aus einer sehr alten Vergangenheit oder einer unerwartet aussehenden Zukunft kommt.

Was die Designerin auch interessiert, ist die Intelligenz des Materials. „In Mexiko gibt es diese traditionellen Terrakotta-Wasserkaraffen, die von selber kühlen. Die sind nie ganz wasserdicht, die sind nicht ganz glasiert, wenn man sie füllt, werden die irgendwann feucht und ziehen kleine Wasserperlen. So entsteht ein natürlicher Kühlungseffekt.“ Auch das ist eine Designentscheidung: Das Ding muss nicht clean und undurchlässig sein, es darf atmen, Pfützen hinterlassen, „das Thema Wasser sichtbar machen“, würden Designprofessoren sagen. Kühlung und Atmung sind wichtiger als hermetische Abschottung.

Es ist natürlich auch das Haptische, was die Fans an den unglasierten Terrakottaoberflächen der „Familia“ begeistert. Es wäre aber zu einfach, das Set nur als archaisch-rauhes Gegenteil der glatten Benutzeroberflächen des iPhone-Zeitalters zu lesen.

Willmanns „Familia“ reagiert noch auf etwas anderes – und weist damit tatsächlich auf eine unerwartete Weise in eine mögliche Zukunft des Designs. Während immer noch die meisten Designgegenstände irgendwo auf der Welt in einer Manufaktur oder Fabrik hergestellt werden, von wo aus sie mit Lastwagen zu Häfen in Frachtschiffe und von Häfen in Lastwagen zum Endkunden gebracht werden, könnte man „La Familia“ theoretisch in jeder Töpferei der Welt herstellen und von jedem handwerklich einigermaßen begabten Kunsthandwerker bemalen lassen. Das Set wäre in Indien und Äthiopien, Argentinien und Kambodscha herstellbar, von Geflüchteten und Kleinstunternehmern. Man könnte die Gesamtheit aller Töpferbetriebe der Welt als eine große, virtuelle, eben bloß dezentrale Riesenfabrik betrachten – und dann könnte die „Familia“ lokal hergestellt und vertrieben werden und wäre ein gleichzeitig lokales wie globales Produkt.

„La Familia“ könnte man auch als einen Versuch der Selbstermächtigung sehen in einer Zeit, in der die großen Hersteller den Designern Probleme machen, obwohl Willmann tapfer betont, sie komme mit all ihren Herstellern phantastisch klar. Bloß haben einige nicht überlebt – sie gingen pleite, schafften es gerade noch, Willmanns neueste Entwürfe in einen Katalog zu drucken, aber als der Vertrieb beginnen sollte, waren sie schon bankrott. Der Druck in der Branche ist groß, die Margen für Designer sind klein. Die Lage für Designer ist desaströs, selbst Willmann, die immerhin schon eine Vitrine für Tecta, ein großartig-einfaches Tablett für Schönbuch, einen Lounge Chair für Bartmann Berlin, ein Bett für Schramm, ein Wandregal für die dänische Firma Woud entworfen hat, bekommt das zu spüren.

„Wenn ich nicht die Beraterjobs hätte, könnte ich dichtmachen“, sagt sie mit erstaunlich guter Laune. Manchmal nimmt sie auch Jobs an wie einen Spot für die Sportmarke Cupra des Autoherstellers Seat, der mit ihrem Gesicht wirbt. Für die Werbeindustrie verkörpert sie das Ideal der jungen Berliner Kreativen – kleines Büro auf der Pappelallee, eloquent, begabt, international für ihre Entwürfe gefeiert, erst Anfang dreißig, weiblich … Dass sich dieses Bild fast besser verkaufen lässt als die eigentliche Arbeit, sagt viel über Klischee und Realität der sogenannten Kreativszene in Deutschland.

Manchmal tritt Hanne Willmann auch selbst als Entdeckerin von neuen Designtendenzen auf – in einem Videoclip, den man auf Youtube findet, sieht man sie auf einer Bauschuttdeponie mit den Gründern von They Feed Off Buildings, einem Berliner Design- und Architekturkollektiv, das sich auf Materialforschung spezialisiert hat.

Eines ihrer Projekte heißt „Urban Terrazzo“, und ist eine, wenn man so will, zeitgemäße Version des antiken Baumaterials Terrazzo, das seinerseits ursprünglich eigentlich eine billige Alternative zu Naturstein war: Man wirft Baureste wie gebrochenes Glas, Kiesel, Muscheln oder nicht mehr verwendbare Bruchsteine in flüssigen Estrich; wenn diese Bouillabaisse kaputtgegangener Reste ausgehärtet ist, wird die Fläche abgeschliffen und gibt eine Archäologie der eingelegten Dinge frei.

Das Kollektiv They Feed Off Buildings, kurz TFOB, zu dem Architekten, Künstler, Materialforscher gehören, sammelt Bauschutt aus Berliner Baustellen; das Ergebnis sieht auf den ersten Blick wie klassischer Terrazzoboden aus einer italienischen Palladio-Villa aus – erst wenn man genauer hinschaut, sieht man in den Böden Spuren der Berliner Stadtgeschichte: hier ein Stück Beton, dort der Bruchteil eines Backsteins, hier ein Stück DDR-Plastik, dort das Rostbraun einer Betonarmierung, das Metall einer Dachabkantung. Die alten Gebäude, der wertlose Schutt werden so zu einer Erzählung über die alte Stadt, die in ihren Neubauten weiterlebt.

Es gibt verschiedene Definitionen dafür, was gutes Design ist. Es gibt Entwürfe, die genial sind, weil sie das Leben zum Besseren verändern können – vor einigen Jahren zum Beispiel wurde ein Wasserfass entworfen, das in der Mitte eine Achse hat, so dass man es bequem wie eine kleine Straßenwalze hinter sich herziehen kann. Darauf war vorher niemand gekommen, als das Ding da war, fragte man sich, warum man Wasser nicht immer schon so transportierte. Tausende von Menschen in Afrika und Asien, die stundenlang laufen müssen, um sauberes Wasser zu holen, müssen es nicht mehr in Kanistern nach Hause tragen, sondern können es hinter sich herziehen. Man kann das gutes Design – als Erfüllung praktischer Zwecke – nennen oder eine gute Erfindung.

Es gibt andererseits auch Design – dazu gehören Willmanns Objekte und auch der Urban Terrazzo –, das nicht unbedingt über seinen Nutzwert definiert wird, sondern über die ästhetischen Erlebnisse, die es ermöglicht: Dazu zählt der Citroën DS von 1955, der wie ein Plastik-Ufo aus der Zukunft hydropneumatisch in die Gegenwart der fünfziger Jahre hineinschwebte; der tragbare Plattenspieler von Mario Bellini, der die Musik an den Strand brachte; der Sitzsack; der Walkman; später der iPhone-Touchscreen, 3D-Brillen, Elektroroller – alles Dinge, die einem intensive körperliche Erlebnisse ermöglichen, ästhetische Erfahrungen, die ein Jahr zuvor noch nicht möglich waren, und die einem so das Gefühl geben, in seiner eigenen Zeit zu leben.

Charles Jencks, der große Dandy und Architektur- und Designtheoretiker, der den Begriff der Postmoderne in die Architektur brachte und in diesem Herbst in London starb, hat einmal geschrieben, Architekten und Designer sollten sich gefälligst nicht mit Technik und sozialen Fragen herumschlagen, dafür gebe es Ingenieure und Soziologen; sie, die Designer und Architekten, sollten, wie alle Künstler, ihre Energie darauf verwenden, eine Form für das zu finden, was als Wunsch, als Stimmung, als unscharfes Begehren in der Luft liegt, aber noch keinen Ausdruck gefunden hat. Ähnlich argumentiert die Designtheoretikerin Annette Geiger in ihrem gerade erschienenen, klugen Buch „Andersmöglichsein. Zur Ästhetik des Designs“ gegen eine zu technokratische Definition von „guter Form“. Der Funktionalismus, so Geiger, tendiere dazu, Freiheiten zu begrenzen, „man möchte Nützlichkeit berechenbar machen, um gerade die ästhetischen Freiheiten als überflüssige Spielerei abtun zu können“.

Oft mehr Designobjekte als Mode im engeren Sinn sind etwa die Kleider von Iris van Herpen, die mit Bühnenkostümen für Björk und Lady Gaga bekannt wurde, vor allem aber auch mit dem Einsatz von Materialien, die man sonst eher selten auf Körper losließ, wie Polyamid, Acrylglas oder Lonarit.

Als wir van Herpen vor einiger Zeit in einem Amsterdamer Restaurant trafen, saß die 35-jährige Holländerin mit Architekten zusammen, was nicht weiter verwunderte: Ihr Studio ist kein klassisches Atelier, was ja immer nach Kunst und 19. Jahrhundert klingt, sondern eher ein Labor, in dem Wissenschaftler und Architekten direkt an den nackten Körper heranbauen. Berühmt wurde sie, als sie das erste nahtlose Silikonkleid präsentierte, das sie mit einem 3D-Drucker hergestellt hatte; es handelte sich dabei um eine Stereolithographie: Man druckt das Produkt Schicht für Schicht; der Entwurf wird von UV-Lasern in Flüssigkunstharz eingebracht, das unter dem Laserstrahl aushärtet.     

Van Herpens Kleider sind virtuose Designexperimente, die dazu dienen, herauszufinden, was neue Materialien und Verarbeitungsformen mit Körpern machen können; und man schaut als Mann etwas neidisch auf die meistens weiblichen Models, die sich in den Stoffen durch den Raum bewegen wie Unterwasserwesen durchs Meer; man glaubt kaum, dass das Luft ist, was diese Effekte an den Körpern hervorruft, und auch nicht, dass das, was um den Körper herumtreibt, Stoff ist, weil es eher elektrischen Spannungsfeldern gleicht oder seltsamerweise aushärtenden Hologrammen; eines der Kleider wurde aus zahllosen Silikonfasern gemacht, die beim Laufen in der Luft vibrieren und zittern, als handelte es sich um extraterrestrische, kommunikationsfähige Daunen, wie überhaupt fast alles, was van Herpen herstellt, aussieht wie das Werk einer außerirdischen Intelligenz.

Oder auch der 1959 als Sohn griechischer Kommunisten in Dresden geborenene, 1973 nach West-Berlin umgesiedelte Modemacher Kostas Murkudis, der, nach seiner Zeit als Assistent von Helmut Lang, 1994 sein eigenes Label eröffnete und schnell als einer der einflussreichsten und experimentierfreudigsten deutschen Modemacher galt: In seiner „Laborkollektion“ schafft er Unikate, die nicht verkauft werden und in denen er jenseits von Vertriebsmöglichkeiten und Sicherheitsvorschriften seine Experimente mit neuen Materialien und Formen vorantreiben kann – da gibt es dann ein rätselhaft und seidig leichtes, gleichzeitig ölig schwer schimmerndes Kleid, das aus einer Folie mit Prismaschliff hergestellt wurde; sie wird produziert von einem Hersteller, der eigentlich Post-its und Klebstoff für die Luftfahrttechnik entwickelt. Wie van Herpen ist auch Murkudis, über den immer wieder geschrieben wurde, er sei Minimalist, eher maximalistisch in dem Sinne, dass er aus einem Material, einer Form ein Maximum an haptischen und optischen Effekten herauszuholen versucht und phantastische, hybride Zwitterwesen schafft: Da wird dann etwa Lammfell mit Nylon durchwirkt und Seide mit Latex versiegelt, um sie an den Kanten schnittfest zu machen.

Auch im engeren Produktdesign, etwa bei Möbelherstellern, gibt es diese Designtradition, deren Ziel es ist, bisher ungekannte, intensive körperliche Erlebnisse zu ermöglichen: Der britisch-kanadische Designer Philippe Malouin zum Beispiel verwendet für seine „Industrial Office“-Serie Industriematerialien wie gefärbtes Nylon und mit Polyurethan beschichteten Stahl; er entwarf auch einen Teppich aus verzinkten Stahldrahtringen, die nach einem komplizierten japanischen Kettenmuster miteinander verbunden sind: Das Metall, eigentlich ein harter, starrer Werkstoff, verwandelt sich wie in einem alchemistischen Zauberstudio in eine empfindliche und flexible Oberfläche. Sein Sideboard und einer seiner Drehsessel bestehen aus Nylon, das in Standardfarben gefärbt ist, ein anderer Sessel ist vollständig aus Gummi gefertigt und als Block in einer Form gegossen, wie man sie normalerweise für das Gießen von Beton nutzt. Malouin experimentiert auch mit den selbstschmierenden Eigenschaften von Gummis, um Oberflächen herzustellen, die glatt gegeneinander gleiten – einer seiner Sessel ruht auf sphärischen Nylonlagern, was „ein ganz neues Drehgefühl ermöglichen“ soll. Nun kann man finden, die Welt hat andere Probleme als die Verbesserung des Drehgefühls.

Das ist das Schöne am Design: dass seine umwerfendsten Überraschungen immer aus Richtungen kommen, aus denen niemand was erwartet hat.

Oft hat aber wirklich wegweisendes Produktdesign etwas mit neuen Materialien zu tun – das war so bei der letzten großen Innovationswelle des 20. Jahrhunderts, die mit dem Aufkommen neuer Kunststoffe begann, und das ist heute vielleicht auch wieder so, wo Wiederverwertung und die „Circular Economy“ ganz eigene Ausdrucksformen auszuprägen beginnen: Camilla Fischbacher, die in Teheran geboren wurde und jetzt in St. Gallen mit ihrem Mann die Christian Fischbacher Co. AG leitet, präsentierte auf der Möbelmesse in Mailand den Outdoor-Veloursstoff „Benu Talent“, der aus recycelten PET-Flaschen hergestellt wird und an klassisches Samt erinnern soll; selten saß man jedenfalls lieber auf Müll als hier.

Ebenfalls aus PET, das zu hundert Prozent recyclingfähig ist und alle Öko-Tex-Standards erfüllt, ist die Objektserie für Pinta Acoustic von Marie Aigner hergestellt – bizarr schöne, mal geometrische, mal organisch wirkende Objekte, die man gern anschaut, ohne ihren Sinn recht zu begreifen, deren Formen sich aber vor allem an die Ohren wenden: Sie sind Akustikdesign, dessen Formen vor allem Schallwellen abfangen sollen.

Darüber, ob das schon gutes Design ist und ob das vor allem dann „gut“ ist, wenn es seinen Zweck der Schallwellenbrechung erfüllt, kann man streiten.

Die Aussage, etwas sei funktional gut, ist selbst immer ideologisch: Ist ein Stuhl, in dem man bequem dösen kann, ein guter Stuhl – oder ist ein Stuhl, der sich dem Rumlungern widersetzt, den Benutzer in aufrechter Position wachhält und das Entspannen und Dösen ins Bett verlegt, viel besser?

Orthopäden würden sagen, ein guter Stuhl ist einer, der die durchs Sitzen drohenden Haltungsschäden minimiert. Aber wenn das Sitzen an sich ein Problem ist: Wäre dann nicht ein Stuhl, der seine Benutzer zwingt, öfter aufzustehen, das einzige wirklich gute Design? Und wäre es dann nicht gut, wenn er gut aussieht, auch wenn das gute Aussehen auf Kosten des Langsitzkomforts geht? Soll der Stuhl eher wachhalten oder Entspannung fördern? Gar nicht so einfach, das objektiv zu beantworten.

„Die heutige Kultur ist schon viel zu bequem geworden“, argumentiert Geiger, „wir sitzen viel zu viel, und dafür sind unsere Körper nicht gemacht. Wie also sollte ein Stuhl das Problem des Sitzens lösen, wenn das Sitzen selbst das Problem ist … Die eigentliche Lösung des Problems Stuhl läge in unseren Breitengraden vermutlich in seiner Abschaffung.“ Ähnlich sah der Architekt und Theoretiker des „Oblique“, Claude Parent, die Lage: Ende der sechziger Jahre verbannte er aus seinem Haus im Westen von Paris alle Stühle und Möbel und ließ stattdessen dort eine Art Hügellandschaft aus Schrägen einbauen, auf denen man lagerte wie die Römer und zu ganz neuen Formen des Miteinanders vorstoßen sollte: Manchmal besteht revolutionäres Design auch einfach darin, Objekte für tot zu erklären. Auch das ist das Schöne am Design: dass seine umwerfendsten Überraschungen immer aus Richtungen kommen, aus denen niemand etwas erwartet hat. Wenn alle superglatte Kleinserienobjekte feiern, kommt jemand und bringt sieben Mexikaner mit Schnurrbärten und einen Brennofen mit; wenn man sich fragt, aus was wohl der schönste, weichste Stoff gemacht wird, dann kommt eine in Iran geborene Schweizerin und sagt: aus Müll; und ein britisch-kanadischer Designer sagt auf die gleiche Frage: natürlich Stahl, was denn sonst; und wenn die Fashionnudeln dieser Welt die erwartbarste und ödeste aller Modefragen stellen, nämlich die, was die Pariserin wohl in der kommenden Saison trägt, dann kommt vielleicht eine gutgelaunte Holländerin und sagt: Was sie trägt, ist ganz klar ein 3D-Drucker, und zwar nach Hause, und dort druckt sie sich ihre Kleider selber aus. Und wenn sie das nicht tut, dann geht sie vielleicht in eine Töpferei und lässt sich eine Familia aus Terrakotta bauen. Oder sie sitzt am Meer unter einem Schirm, und der Wind weht sehr stark vom Atlantik rüber und droht den Schirm umzuschmeißen, und dann legt sie einfach zwei schwere Steine auf seinen Fuß – und tut damit das, wofür es anderswo völlig zu Recht große Lobesreden und Preise gibt und was man als Design bezeichnet.

Quelle: F.A.Z. Quarterly

Formen für heute: Die Zukunft des Designs

Formen für heute und morgen

Wenn im Design selbst die Zukunft eine abgeschlossene Epoche ist, muss neu gedacht, geformt und gestaltet werden: Mit Materialien, die erst erfunden wurden – mit Funktionen, von denen wir nichts ahnten. Und mit dem Mut, vieles einfach abzuschaffen.

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