Ich sitze im Restaurant beim Espresso. Nach 15 Minuten kommt der Kellner und räumt das leere Kaffeegeschirr weg. Das ärgert mich, da ich noch Zeitung lese und nicht vor leerem Tisch sitzen möchte. Das Personal meint indes, dieses Vorgehen sei normal. Für mich erweckt es aber den Anschein, man wolle den Platz freibekommen.
Das Servicelehrbuch zeigt es eigentlich auf, doch nicht immer wird auch tatsächlich nach dieser Richtschnur gehandelt: Eine Regel im gastgewerblichen Metier besagt, dass dem Gast stets ein Glas bleiben sollte – selbst wenn er signalisiert, nichts mehr konsumieren zu wollen. Diese wohlbegründete Sitte soll vermeiden, dass sich der Gast quasi gezwungen fühlt, den Platz zu räumen.
Führt man sich jedoch eine üppig gedeckte Tafel vor Augen, so macht das Abräumen durchaus Sinn: Oft überfüllen längst leer getrunkene Gläser den Tisch. Spätestens zur Kaffeerunde werden folglich nicht mehr benötigte Gläser und Weinkelche abgeräumt, in der Regel aber durch die Digestifs ersetzt – womit der Gast wieder ein Glas vor sich stehen hat.
Etwas anders verhält es sich im Café: Wird zum Espresso ein Glas Wasser gereicht, ist es durchaus üblich, dass die Tasse nach längerer Zeit höflich abgeräumt wird – wohlbemerkt mit der Frage, ob ein weiteres Heissgetränk serviert werden dürfe. Wenn Servicemitarbeitende unaufgefordert den Tisch «leerfegen», bleibt beim Gast auf jeden Fall ein bitterer Nachgeschmack. Womöglich wird er seinen Morgenkaffee künftig woanders geniessen, was summa summarum kaum im Interesse des Wirtes sein dürfte.
Doch auch der anderen Seite sollte Beachtung geschenkt werden. Dass Gäste, die stundenlang ohne Konsumation vor einem leeren Wasserglas sitzen, die Geduld des Wirtes strapazieren, überrascht wenig. Spätestens wenn die ersten Gäste zum Mittagessen einkehren, wird der Gastgeber nervös. Dass Essensgäste nicht zu Gunsten jener abgewiesen werden können, welche die Kasse nicht füllen, leuchtet aus buchhalterischer Sicht ein. Doch insbesondere Stammgäste goutieren einen zeitlich beschränkten Aufenthalt selten – viele verbinden das Einkehren in ein Lokal mit dem Gefühl von Selbstbestimmung und Freiheit: Ich kann kommen und gehen, wann es mir beliebt ...
Daher muss dem Gast zwingend kommuniziert werden, wenn ein Tisch aufgrund einer Reservation nur befristet frei ist. Weisen die Servicemitarbeitenden höflich darauf hin, dass der Tisch ab einer bestimmten Zeit für Gäste mit Voranmeldung reserviert ist, ist das Verständnis seitens des Espresso-Geniessers bestimmt grösser, als wenn das Abräumen der Kaffeetasse den erwünschten Abschied einzuläuten versucht.
Schreiben sie an: Ratgeber, Luzerner Zeitung, Maihofstrasse 76, 6002 Luzern. Email: ratgeber@luzernerzeitung.ch. Bitte geben Sie bei Ihrer Anfrage Ihre Abopass-Nummer ein.
Einmal mehr ist es also das Fingerspitzengefühl, welches achtsame Mitarbeitende auszeichnet, um weder Gast noch Gastgeber zu verärgern. Doch auch der Gast sollte den Menschenverstand walten lassen und für gewisse Gegebenheiten Verständnis aufbringen.
Es gibt wohl nur eine Situation, die den Mitarbeitenden einer Lokalität den Freipass für das Abräumen sämtlicher Gegenstände auf der Tafel gewährt: Wenn Gäste nach Feierabend auch nach dreifacher freundlicher Aufforderung keine An- stalten machen, aufzubrechen.
*Michèle Ségouin ist Knigge-Trainerin und dipl. Hôtelière-Restauratrice HF. Weitere Informationen: www.dieanstandsdame.ch