Es ist das perfekte Stillleben, ein Inbild des 21. Jahrhunderts. Da steht ein iPhone der neueren Generation, seine schmale Schutzhülle glänzt am Rand, aufgestellt auf dem beigefarbenen Beistelltisch eines Krankenhausbetts wie für eine Präsentation, angelehnt an eine Plastikflasche, deren Hals und grüne Verschlusskappe so scharf fokussiert sind, dass man sogar die winzigen Punkte des aufgedruckten Haltbarkeitsdatums erkennen kann, "04.06.21". Der Bildschirm des iPhones zeigt ein Videobild, nicht zu sehen ist der Angerufene, sondern nur ein rosa bezogenes Kissen oder eine Bettdecke, die Falten bilden sanfte Hügel und Täler. Scharfes Grün, weiches Rosa.
Der diffuse Hintergrund der Fotografie, ein Krankenhauszimmer, mutet fast wie ein konstruktivistisches Gemälde an, warmgraue Wand trifft auf braune rechteckige Flächen und dunkelgrauen Boden. Von der Komposition her ist diese Momentaufnahme geradezu klassisch, und doch ist das Motiv absolute Gegenwart: diese seltsame Form der digitalen Nähe, ungreifbar und abstrakt.
Man glaubt, die Atmosphäre dieses Bildes riechen zu können, Desinfektionsmittel, Plastik, Chiptechnik. Und dann versteckt sich, man entdeckt es erst beim genauen Hinschauen, noch ein Selbstbildnis auf dem Bildschirm, oben links, in dem kleinen Bild im Bild, auf dem man sich beim Videochat selbst begutachten kann. Der Fotograf wird da, im Krankenbett liegend, von sich selbst fotografiert, er hält die Kamera vor sein Gesicht, die Linse ist groß und schwarz.
Das perfekte Stillleben trägt den Titel Lüneburg (self) und ist eine der neueren Fotografien von Wolfgang Tillmans, 1968 in Remscheid geboren. Von nächster Woche an wird es in seiner großen Retrospektive zu sehen sein, ausgerichtet vom Museum of Modern Art in New York . Eine im wörtlichen Sinne gigantische Ehrung, er bekommt für seine Kunst den gesamten sechsten Stock, 1800 Quadratmeter. Wie üblich präsentiert er seine Arbeiten als komplexe Installationen, für die er Fotografien aus drei Jahrzehnten in verschiedenen Formaten meist einfach mit Klebefilm oder Klammern direkt an die Museumswände hängt, ganz ohne Rahmen. Vorläufig und ungeschützt wirkt das und verstärkt das Gefühl der Unmittelbarkeit noch, das auch viele Szenen auf Tillmans Bildern bestimmt.
Da ist dieser Mann unter der Dusche, der Oberkörper tätowiert, die kurzen, grün gefärbten Locken glänzen wie Moos nach einem Sommerregen, Tropfen laufen die Stirn herab, er hält sich die linke Hand vors Gesicht. Ein Finger, hell wegen des seitwärts ins Bild fallenden Lichts, ist bandagiert. Auch wenn kaum etwas vom Gesicht des Porträtierten, dem Musiker Frank Ocean, zu sehen ist, glaubt man ihm doch so nah zu kommen wie auf keinem anderen Bild zuvor.
Berühmt geworden ist Tillmans in den 1990er-Jahren als Fotograf des Magazins i-D in London, dem damaligen Zentrum der Mode, der Kunst, der schwulen Kultur und elektronischen Musik. Er fotografierte all die jungen Freunde aus der Londoner Szene, deren Stil damals allgegenwärtig war, etwa die Künstlerin Alexandra Bircken und den Modedesigner Lutz Huelle halbnackt in einem Baum sitzend. Auch beim Tanzen in den Clubs machte er seine Bilder, beim Küssen und Schwitzen. Begegnete man Wolfgang Tillmans in den vergangenen Jahrzehnten in einer seiner Ausstellungen – oder einem Berliner Club –, fiel sein immer offenes Grinsen auf, sein neugieriger Blick. To look without fear heißt jetzt auch die New Yorker Ausstellung: Schaut unerschrocken auf diese Welt!
Ohne Angst blickte er schon als Teenager in der westdeutschen Provinz durch die Objektive, beobachtete tagelang mit einem Amateurteleskop die Flecken auf der Oberfläche der Sonne. Das Interesse für die Oberflächen blieb, er fotografiert den lackglänzenden Kotflügel eines Autos genauso wie ein mit grauem Beton halb vollgespritztes Stahlgerüst, spielt mit dem Fotopapier, rollt es zur Tropfenform ein, knickt es gleichsam zu einer weißen Gebirgslandschaft, experimentiert bei der Belichtung derart, dass am Ende Schwärme von Farbpunkten durch eine Art Meer rauschen. Freischwimmer heißt diese Serie.
Die Freiheit suchte Tillmans auch immer wieder im Nachtleben, im "sinnhaften Hedonismus" des Feierns, wie er das nennt, in den Clubs, in denen sich eine ganz spezielle Form von Ungebundenheit und Solidarität bilden kann. Und so glüht nach dem großen Rave auf seiner Fotografie wake von 2001 auch der menschenleere Raum noch in einem verheißungsvoll warmen, morgenroten Licht, trotz all der halb ausgetrunkenen Flaschen, der kaputten Plastikbecher und des sonstigen Schmutzes. Es kommt keine Katerstimmung auf beim Anblick dieser Bilder, im Gegenteil. Eher der Wunsch, man wäre bei diesem Fest dabei gewesen.
Zu sehen ist die Ausstellung im MoMA New York vom 12. September bis zum 1. Januar
Tillmans ist einer der wenigen Fotografen, dessen Werk mit Recht künstlerisch genannt werden kann.
Hervorzuheben sind seine experimentellen abstrakten Fotos: https://www.google.de/search…
Die Fotos sind von höchst unterschiedlichem künstlerischen Niveau.
Ich mag Wolfgang Tillmans und seine fotografische Kunst sehr gern - ich finde sie reflektiert, innovativ und nahbar. Die Hängung der Fotos ohne Rahmen und die detallierte Raumgestaltung in seinen Ausstellungen finde ich auch sehr ansprechend.
Sein Engagement in der Anti-Brexit-Kampagne fand ich grossartig - vor dem Referendum habe ich eins seiner Poster in unser englisches Wohnzimmerfenster gehängt, zur Strasse hin. It struck a cord!
https://www.sfmoma.org/artwo…
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